Kulturschock garantiert

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  • 1. März 2016

Wenige Tage vor meinem ersten Indientrip (eine Geschäftsreise) hatte ich ein Gespräch mit einem indischen Arbeitskollegen, den ich vor Ort treffen würde. Er fragte mich, ob ich bereits in Indien gewesen sei. Als ich verneinte, antwortete er schelmisch „Dann wird das sehr interessant für dich sein.“ Abgebrüht und welterfahren wie ich war, erwiderte ich, dass ich bereits weit gereist sei auf fast allen Kontinenten und auch in weniger entwickelten Ländern und sehr fremden Kulturen. Daraufhin entgegnete er mit einem Satz, der mir wohl lange in Erinnerung bleiben wird: „Oh nein, glaub mir, das Ausmaß an Chaos ist sehr viel größer in Indien als irgendwo sonst.“

Mehrere Indienreisen später kann ich immer noch sagen: der Kollege hat’s auf den Punkt gebracht. Mittlerweile war ich auf allen Kontinenten, in noch mehr abgefahrenen und interessanten Ländern, doch Indien bleibt eine Liga für sich. Wirklich extrem, unglaublich und unvergleichlich in vielerlei Hinsicht. Ist das gut oder schlecht, wurde ich schon oft gefragt. Schwierig zu beantworten, jeder muss das für sich entscheiden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Indien seine Besucher polarisiert. Viele lieben es innig, andere mögen es gar nicht oder kommen gar nicht damit zurecht. Dazwischen gibt es wenig, scheint es.

Ich würde Indien als sehr intensiv bezeichnen, als Kulturschock-Garant. Die Eindrücke sind sehr zahlreich und nachhaltig. Indien überwältigt mit vielen Menschen, vielen Gerüchen, vielen Geräuschen, vielen Kulturen, vielen Sprachen, vielen Religionen, viel Vielfalt – und wenig Struktur. Aus ordnungsliebender mitteleuropäischer Sicht scheint es ein Wunder, dass das Land funktioniert. Ebenso ist Indien ein Land voller extremer Gegensätze. Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit, Arroganz und Bescheidenheit, Leben und Tod, Herzlichkeit und Unmenschlichkeit scheinen so dicht Seite an Seite zu existieren, dass man sich schwer tut, dies im Kopf zusammenzubringen. Indien ist aus meiner Sicht leichter mit dem Herz als mit dem Verstand zu verstehen.

„The simple and astonishing truth about India and Indian people is that when you go there, and deal with them, your heart always guides you more wisely than your head. There’s nowhere else in the world where that’s quite so true.“
― Gregory David Roberts, Shantaram

Meine interessantesten Erlebnisse in Indien?

Nun, zunächst wäre da meine erste Ankunft in Indien. Ich landete spät abends in Bangalore und hatte ein 4-Sterne-Hotel in der Innenstadt gebucht. Am Flughafen wühlte ich mich durch Tausende Taxi-Wallahs und nochmal Tausend Abholdienste bis zu meinem Fahrer. Dann ging die Fahrt durch dunkle, verkehrsarme(!), heruntergekommene Straßen. Ich wunderte mich, wohin der Fahrer mich wohl brachte. In einer besonders verwahrlosten und leeren Straße meinte der Taxifahrer dann, wir seien angekommen. Unglaublich, denn die Umgebung mutete nicht nach Downtown in einer IT-Metropole an. Doch tatsächlich, eine kurze Einfahrt von der Straße entfernt lag das Hotel, das bis auf ab und an fehlendes Wasser gar nicht so schlecht war.

Ähnlich war der Eindruck, als ich erstmal das Firmengelände meines damaligen Arbeitgebers in Bangalore erreichte. Die Fahrt ging 1,5 Stunden durch komplettes Verkehrschaos, durch mehr oder weniger arme Gegenden, bis wir plötzlich an einem riesigen Einfahrtstor standen, mit massivem Sicherheitsaufkommen. Wir fuhren hindurch und verließen plötzlich das Chaos, den Schmutz und den Müll des Viertels und befuhren das absolut makellose Firmengelände. Tolle Gebäude mit Glasfassaden, große Grünflächen mit perfekt gepflegtem Rasen und überall fleißige und gut angezogene IT-Angestellte. Ein wirklich unfassbarer Kontrast, ein wenig wie eine Oase inmitten einer Wüste.

Dann wäre da noch ein Kochkurs zu erwähnen, den eine Dame hohen Alters in Udaipur in ihrer eigenen (sehr einfachen und kleinen) Küche anbot. Shashi, wie sie hieß, musste selbst für ihren Unterhalt sorgen, nachdem ihr Mann vor einiger Zeit gestorben war. Die besondere Herausforderung bestand darin, dass sie nie einen Beruf erlernt hatte und dass sie eigentlich nicht als Kochlehrerin arbeiten sollte, da sie aus der höchsten Kaste stammte. So brachte sie sich selbst, mit Hilfe einer englischsprechenden Backpackerin, Englisch bei und begann einen indischen Kochkurs für Touristen anzubieten. Das beeindruckende waren die äußerst einfache Küche und noch einfachere Kochausrüstung, die nicht verhinderten, dass das resultierende Essen absolut deluxe war. (Auch wenn unser Magen am nächsten Morgen leicht angekratzt war vor lauter indischer Gewürze, was aber eine Frage der Gewohnheit, nicht der Qualität war.) Sie wurde schließlich sogar vom Lonely Planet empfohlen.

Wenig politisch korrekt (wenn nicht rechtlich zweifelhaft) war ein bizarres Erlebnis spät abends in Bangalore. Wir waren mit ein paar Arbeitskollegen in einer Bar unterwegs gewesen und haben uns blendend unterhalten. Nun schloß die Bar irgendwann gegen Mitternacht, und wir hatten noch Lust auf ein Absacker-Bier zu Hause. Also saßen wir zu dritt im Tuk-Tuk und besprachen unser Anliegen mit dem Fahrer. „Ihr wollt also noch ein Bierchen?“, fragte er, was wir selbstredend bejahten. Es folgten ein paar Handy-Telefonate des Fahrers, bis er schließlich unterwegs einen Kumpel aufgabelte, der sich seitlich ans Tuk-Tuk hing. Der Fahrer hielt an einer Kreuzung, der Motor lief, und sein Kumpel verschwand in eine Seitenstraße. Plötzlich hörten wir aus der Ferne ein Geräusch, was wir sehr langsam als Klirren einer zerstörten Glasscheibe identifizierten. Kurz darauf kam der Kumpel des Fahrers um die Ecke gesprintet, hing sich mit einer Tüte Bier beladen wieder ans Tuk-Tuk, und los ging es mit Vollgas. Da war also unser Bier, die Bestellung war erledigt. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir realisierten, dass das Bier wohl eher nicht über eine legale Transaktion zustande gekommen war. Da waren wir auch schon zu Hause bei einem der Arbeitskollegen und genossen im Garten das kühle Blonde.

Mein persönliches Fazit nach drei Indienreisen ist absolut positiv. Ich hatte in Indien so gut wie keine negativen Erlebnisse und fühlte mich fast immer wohl, willkommen und sicher. Und das Essen ist deluxe. Ich habe einige gute Freunde, die aus Indien stammen und deren Witz, Herzlichkeit und Debattierfreudigkeit ich sehr schätze. Ich muss jedoch offen zugeben, dass ich Indienreisen nicht als Entspannungstrips bezeichnen würde. Ich finde das Land anstrengend und muss in der richtigen Stimmung sein, um in Bangalore, Delhi oder Mumbai in Reiselaune am Kofferband zu stehen. Doch wenn diese Voraussetzung stimmt, ist ein einmaliges Erlebnis garantiert.

Die Fotos in diesem Eintrag sind auf einem Indientrip 2011/12 entstanden, als wir in Udaipur, Jaipur, Delhi, Agra und Goa unterwegs waren – eine eher touristische, aber lohnende Route. Auf dieser Reise entstand übrigens auch ein Kurzfilm.

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